Brechen und Biegen

Als ich  vor der Tür stand, meine Schlüssel offensichtlich vergessen hatte und nun beim erneuten Abtasten meines Körpers feststellen musste, dass auch mein Smartphone nicht in erreichbarer Nähe war, bemerkte ich plötzlich, dass es keine Telefonzellen mehr gab. Auch die Nummer von Peter fiel mir nicht ein, obwohl es immer noch der alte Festnetzanschluss war, auf dem er sich ausschließlich anrufen ließ.

Er selbst nutzte das Telefon selten für ausgehende Gespräche. Eigentlich gar nicht. Zumindest erinnerte ich mich an keinen Fall, in dem Peter mich mal angerufen hatte, und wir kannten uns nun immerhin schon gut dreißig Jahre, was mich überraschte, als ich darüber nachdachte.

Ich versuchte mir die Zahl vor Augen zu führen und malte sie dazu mit meinem rechten Zeigefinger in die Luft vor die verschlossene Eichentür, als wäre es die abgefallene Hausnummer und als wäre ich ein Paketbote auf der Suche nach dem Klingelschild „Müller“. Wie viel Zeit passt in dreißig Jahre, fragte ich mich –

Ich scheiterte in einer zufriedenstellenden Beantwortung und nutzte den Moment für eine flüchtige Altersmelancholie, die mir aber zu früh kam, daher überführte ich die angesprochene Zeit umgehend in eine Raffung und folgte einem mir mittlerweile sehr gut eingeübten und beinahe intuitiv funktionierenden Pragmatismus: Ich beschloss, dass dreißig Jahre eine „ganz schön lange Zeit“ seien und lachte vorsorglich, wie ich es mir üblicherweise für den sogenannten „Small Talk“ in Kneipen vorbehielt, um darin eine gute Figur zu machen. Ich hatte genau das seinerzeit zu Hause vor einem extra dafür angeschafften Spiegel als Reaktion für Zweifelsfälle einstudiert, nachdem es redebedingt wiederholt zu einigen Vorfällen gekommen war, von denen manche in einem Kontext der physischen Gewalt mündeten.

Während meiner präventiv durchgeführten Übungen tendierte ich zunehmend dazu, den Schluss zuzulassen, der Spiegel sei genau für diesen Zweck und extra für mich angefertigt worden. Zu präzise erschien mir der Kommentar, den er hinterließ, wenn ich mich ihm übermütig präsentierte und die Hosen fallen ließ.

Man könnte sagen, dass ich, hin und wieder selbst von mir erschrocken, dem hageren Fleisch gegenüberstand, als warte es auf den Wolf, um ihn doch noch davon zu überzeugen, dass es seiner eigentlichen Natur entspräche, sich vegan zu ernähren. Der Wolf kam nie, aber an meiner gebrechlichen Statur änderte das wenig.

In der Ferne

Auf der anderen Seite des Horizonts
steht er oder sie als ein Schatten
durch die Maske sagt sich das Gesicht
so oder so, sehe ich nicht
wer du bist und warum
wohin du gehst und wie
aber wenn du dann kommst
dann löst sich das alles in Luft auf
die Grenzen, die Zwänge, die

industrielle Lethargie
die Wucherungen von
Wachstum und Unterdrückung
was sie Wohlstand nennen
lässt die Wahrheit nicht erkennen
die dann sich erst zeigt
wenn wir uns treffen
erzählen
und
lieben
bis zum Morgen danach

Ursprungsszenen II

Als das ›Ich‹ auf die Welt kam
War es ein unbeschriebenes Blatt
Dann begann
die Besprechung der neutralen Person

Ab heute beginnt die Reinigung
von der Sprache,
um dem Menschen zu folgen,
der sich emanzipiert
und mich
und dich
und vielleicht auch
sich selbst.

Schwarzer Freitag, schwarz am Freitag?

Das Spiel mit der Farbe ist ganz schön perfide
als wären die Schiffe von vor Jahrhunderten
noch immer unterwegs, nur steuert sie niemand mehr
abstrakte Sklaverei, Menschenhandel
wird gebraucht, um die Löhne zu drücken
um die Drecksarbeit zu machen
um Träume zu versprechen
die sich selten erfüllen

das seltene wird erzählt
für das gute Gewissen
der Beamte und seine Familie
lassen ihr Haus
nicht Schwarz, aber schwarz
putzen
sie betrügen den Staat
und uns alle
aber
vor allem die Würde
des Menschen
sie ist
antastbar
nicht nur
in der Ferne.

Menschen
handeln.

Die Felder am Horizont

Es blühten die Felder
am Horizont
in der Zukunft
würden sie gewachsen sein werden
wie gestern
als dort
noch Kornblumen blühten
im Gelb des Getreides
der Duft
von Freiheit, Blut
und Demokratie
aber
niemals
Gewissheit
nicht im Jetzt
nicht in der Vergangenheit
nie in der Zukunft
der Kampf bleibt
auch –
wenn Frieden
gewollt werden
wird
von allen Parteien
auch von denen
die den Kampf
gegen die Menschen
schuldig
geführt.

Unter der Haut

Es regt sich, ein Kribbeln;

taucht einfach so auf.

Es ist einfach da
– ist etwas da
es ist nirgenwdo
irgendwo
es ist manchmal
fort,
ist es
einfach so weg
es lebt trotzdem weiter
es lässt dich vergessen
es kommt einfach wieder, ist einfach so hier
es sammelt sich manchmal
es ist nicht erschöpft
es will nicht mehr gehn
es will nicht wieder weg
es will…
einfach so
– lässt es dich los
es geht
aber bleibt
– es ist etwas da.

Es ist etwas da;
manchmal.

Das Gesicht trägt ein Lachen,
gestern, heute und morgen
insgeheim immer
nur manchmal nicht
sichtbar nach draußen.

Du klopfst an die Tür,
ich mache auf.

Wir müssen uns eigentlich…

das Eigentliche gar nicht sagen
weil wir eigentlich nur machen
was wir eigentlich schon sind
und vorher schon waren
also eigentlich alles so
wie gestern
nur heute
und neu
und noch mal
genau so
schön –
gut
eigentlich
überflüssig
eigentlich
eigentlich

Wo kommst du eigentlich her?

Es ist ein ganz normaler Dienstag. Wir treffen uns heute das erste Mal. Ich bin neu hier, die anderen sind es auch. Manche sehen aus wie ich. Die meisten nicht. Genau genommen eigentlich niemand, aber das ignoriere ich oft und suche nach Gleichgesinnten. Das ist natürlich Quatsch, wenn ich das über die Optik mache. Aber ich denke, du verstehst, was ich meine. Menschen machen so ihr Sozialgedöns und bilden Gruppen, werden schlimmstenfalls Hooligans, Faschisten oder einfach nur Arschlöcher. Bestenfalls eine Gewerkschaft (das Herz schlägt rot).

Ich sitze an einem „Mixed Table“ und wir kommen uns langsam näher. Das ist für alle hier und heute das erste Mal. Der erste Tag in der Ausbildung und jetzt startet das Leben. Einige kennen sich schon vom Unternehmen, ich kenne niemanden. Alle kommen von irgendwo her, manche mit der Bahn, aber die meisten fahren mit dem Auto. Sie unterhalten sich über den Stau und die Spritpreise. Das ist ein großes Thema. Manche können zu Fuß kommen, das ist ein Vorteil.

Nach einer halben Stunde nehme ich mir endlich ein Herz und breche das Schweigen an unserem Tisch. Ich frage nervös, aufgeregt und deshalb sehr direkt den jungen Mann neben mir: „Wo kommst du her?“ Er antwortet intuitiv und fast schon im schüchternen Reflex: „Kenia!“

Natürlich merke ich sofort, dass wir aneinander vorbeireden und sage: „Nein, ich meine hier von Remscheid oder aus dem Bergischen oder aus Köln?“ Dann reden wir auch über die Anfahrt. Vielleicht sprechen wir trotzdem mal über Kenia. Irgendwann, wenn er anfängt. Es liegt alles noch vor uns.