Sie hatte fünf Jahre in der Stadt gewohnt. Aber das war kurz nach dem Krieg, als der Verkehr noch mehr oder weniger brach lag und es andere Probleme gab. Alles begann sich nur sehr langsam zu ordnen und es gab noch Pfade ohne Namen. Hin und wieder machte man ein Geschäft auf der Straße. Geld spielte nicht die wichtigste Rolle. Man schlug sich irgendwie durch. Ihr Elternhaus lag draußen vor der Stadt und nach einem entweder unerklärlich unpräzisen oder aber sehr gezielten Bombentreffer nun in Schutt und Asche. Familie hatte sie seitdem keine mehr. Sie fand Zuflucht und eine Anstellung als Haushälterin bei einem alten Schulfreund ihres Vaters, der als Schreiner mitten in der Stadt wiederum Glück gehabt hatte, dass er und seine Werkstatt in dem ganzen Trubel völlig unbeschadet geblieben waren.
Zum Neubeginn entwickelte sich die wirtschaftliche Lage für ihn und seine Familie hervorragend. Handwerk war jetzt sehr gefragt. Es gab mehr Aufträge als Holz. Und er schlug überall dort auf, wo ein Schreiner gebraucht wurde. Er schlug auch dort auf, wo keiner gebraucht wurde, aber praktische Veranlagung vonnöten war. Natürlich nur, wenn es noch etwas zu holen gab. Das war längst nicht überall der Fall. Aber seine Dienste sprachen sich in entsprechenden Kreisen schnell herum. Nicht selten stand gleich morgens früh wieder einer vor der Tür des Hauses oder meldete sich in der Werkstatt, weil hier wie dort noch dies oder das zu erledigen sei und man könne sich dafür wirklich niemand besseren vorstellen als… Kurz gesagt: Die Nachfrage nahm gewisse Ausmaße an. Tendenz steigend. Täglich. Woche für Woche. Fast möchte man meinen: stündlich. Wenn er nicht persönlich kam, schickte er seine Leute. Letzteres wurde zur Regel. Mittlerweile hatte er eine gute Handvoll Hilfsarbeiter bei sich im Betrieb angestellt. Die meisten von ihnen waren zwar aus dem Krieg oder der Gefangenschaft zurück, aber längst noch nicht wieder zu Hause angekommen. Eigentlich kam niemand mehr dort an. Das wusste man damals aber noch nicht. Oder man war nicht ehrlich zu sich, seiner Situation und der Welt, in der man lebte. Vielleicht konnte man nicht anders. Man hatte ja zu dieser Zeit zumindest noch Hoffnung. Sie arbeiteten dafür und für ihn außer Haus und in seiner Werkstatt, wo sie auch schliefen und lebten, wenn sie nicht arbeiteten; was selten der Fall war.
Auch meine Großmutter konnte dort arbeiten, leben und wohnen. In anderer Funktion natürlich. Sie schlief nicht in der Werkstatt, sondern im Haus und kümmerte sich um den Einkauf und die Kinder. Ihr Ort war der Haushalt. Ihre Rolle klar definiert. Dafür wurde sie bezahlt. Sie kochte und putzte in einer Perfektion, dass es der eigentlichen Frau des Hauses die blasse Verwunderung und den Neid in die Augen trieb. Sie hatte daher später begründete Angst, man würde im Falle des Falles „für so etwas keinen Ersatz finden“. Damit sollte sie recht behalten. Als meine Großmutter die Stelle mit der Begründung aufgab, nun einen eigenen Haushalt auf dem Land ihrer Eltern begründen zu wollen, schlug Dankbarkeit in Missgunst um. Es kam zu einem Vorfall, der die Trennung schmerzlich erleichterte. Besonders von den Kindern fiel der Abschied schwer und auch der alte Schulfreund des Vaters meiner Großmutter fühlte sich im Herzen zwar dankbar verbunden und sehnte sich irgendwie nach „so einer Frau“. Er stellte sich beim Abschied dennoch auf die Seite seiner Angeheirateten, um die Zukunft des eigenen Hausfriedens nicht in Gefahr zu bringen.