Episode zur Christlichkeit

– Als Randnotiz sei bemerkt: Das passierte dann doch. Mittlerweile war alles wieder sehr gut organisiert. Es gab mehr als genug Holz und zu viele gute Werkstätten. Als die Aufträge eine Zeit lang ausblieben und die Arbeit im Haushalt nicht mehr fremd vergeben werden konnte, stellte die Familie fest, dass niemand etwas von der Dynamik echter Sauberkeit verstand. Keiner hatte die praktische Veranlagung oder das nötige Talent zum Putzen und auch an der Übung fehlte es merklich. Sie versuchten sich mühsam, aber begriffen sehr schnell und zum ersten Mal wirklich, wie hilflos sie waren, wenn die Dinge nicht mehr einfach so – zu ihren Gunsten – vom Himmel fielen.

Ein paar Jahre später wurden die Spannungen dann so groß, dass die Familie daran zerbrach. Der alte Schulfreund des Vaters meiner Großmutter arbeitete mittlerweile Tag und Nacht in der Werkstatt und schreinerte alles, was irgendwie ein paar Mark brachte. Zuletzt waren das meist Särge im Auftrag der örtlichen Gemeinde. Sie wurden gebraucht für „Menschen, die ohne Hinterbliebene waren“ und ganz einsam und alleine in ihrem Haus oder ihrer Wohnung verstarben. Gemessen an dem geringen Ertrag, den das Bauen dieser Holzkisten der letzten Ruhe ihm einbrachte, verwendete er zu viel Zeit darauf.

Als es mal wieder länger als vereinbart dauerte und man ihn daraufhin kontaktierte, gab er sich bedingt einsichtig und äußerte offiziell, er wolle es den Verstorbenen wenigstens einmal „schön machen“ und er wisse um „seine Verantwortung für den ewigen Frieden“. Außerdem habe er aktuell sehr viel zu tun. Was nicht stimmte. Innerlich trieb ihn allein die Angst und das Bewusstsein darum, dass ausbleibende Aufträge den offensichtlichen Leerlauf zeigen würden, den es ja gab, den er aber weder sich, noch seiner Familie und schon gar niemandem sonst eingestehen wollte.

Nachdem alle Rücklagen aufgebraucht waren und er sich längst keine Mitarbeiter oder gar eine Haushälterin mehr leisten konnte, wartete seine Frau eines Abends nicht mit dem Abendessen auf ihn, sondern war einfach weg. Zusammen mit den Kindern. Kein Zettel, keine Nachricht – nur der Tisch war gedeckt: mit einem einzelnen Teller und einem silbernen Löffel, auf dem ein fremder Name eingraviert war.

Als ihm die Dinge sehr schnell klar geworden waren, ging er, ohne gegessen zu haben, konsterniert zurück in die Werkstatt und begann die arbeiten für ein neues Bett, das ein Kunde erst heute für sein ungeborenes Kind in Auftrag gegeben hatte und das er „schnellstmöglich und mit sehr viel Liebe“ ausliefern wollte. Während der Arbeiten geriet er dann aber in einer – wie es im späteren Bericht hieß – „unkonzentrierten Sekunde“ durch eine „offensichtliche Unachtsamkeit“ in eines der laufenden Messer. Er war nicht sofort tot. Der Unfall verlief aber so unglücklich, dass auch schnell herbeieilende Hilfe ihm nichts mehr gebracht hätte. Er stöhnte sanft und lag zunehmend lebloser in seinem Blut. Niemand hörte ihn. Man fand ihn erst zwei Wochen später, als der Kunde sich „dann doch einmal“ nach dem „Stand der Dinge“ erkundigen wollte und niemanden antraf, außer die Leiche, die irgendwie glücklich aussah.

Man beerdigte den Verstorbenen in einem seiner letzten Särge. Eigentlich eine Fehlproduktion. Die Kiste war seinerzeit etwas zu klein gewesen. Er hatte sich um etwa eine Kopflänge vermessen. Dem ursprünglichen Empfänger fertigte er daraufhin eine Neue an. Für den Schulfreund des Vaters meiner Großmutter passte der Sarg. Nicht perfekt, aber: „Wenn man ein Kissen unterlegt oder ihn etwas zusammenfaltet, dann geht‘s“, so hatte es der Gehilfe des Bestatters sehr pragmatisch festgestellt. Er winkelte die starren Beine mit etwas Mühe an, bevor er den Deckel, der wirklich nur leicht auf den Knien auflag, mit wenigen Nägeln für immer verschloss.

Die Gemeinde kümmerte sich sodann und beinahe rührend um die baldige Beerdigung. Man veranstaltete – „zwar sehr kurzfristig“, wie man sagte – aber dennoch sehr spontan und gleich am selben Tag noch eine eigens anberaumte Messe. Es kamen sogar ein paar Trauergäste, die wenig überrascht vom Verlust wirkten. Man kümmerte sich seitens der Gemeinde auch sehr fürsorglich um die Hinterlassenschaften der Familie des Verstorbenen. Mehrfach versuchte man Frau und Kinder zwecks des Erbes zu erreichen. Aber sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Offiziell erklärte man sie für unauffindbar. Was sie auch blieben.

Die Schornsteine rauchten im Winter fast schon wieder wie früher. Der vaterlose Sohn des Kaplans konnte alsbald die schließlich an die Gemeinde überschriebene Werkstatt ganz einfach und sehr kurzfristig übernehmen. Er war sehr dankbar um die göttliche Fügung und den kurzen Dienstweg. Seine Bestimmung war das Handwerk zwar nicht, aber immerhin glaubte er nun, endlich einer wirklichen Tätigkeit nachgehen zu können. Er schaffte sich das Notwendigste drauf.

Wenig später stieg – laut der offiziellen Bücher – die Todesrate der einsamen Seelen in der Gemeinde sehr plötzlich, aber dauerhaft an. Die Ausgaben für Schreinerarbeiten vergrößerten sich entsprechend. Zur gleichen Zeit blieb die Zahl der Beerdigungen konstant und ging sogar, im wachsenden Wohlstand, leicht zurück. Aufgefallen ist das scheinbar bis heute nicht. Wie auch. Das Geld verschwand, mit Sarg oder ohne, die Bücher blieben ungeprüft und man vertraute einander – blind und bis in den Tod.

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