Die Großmutter

Immerhin hatte ich es meiner Mutter schon damals leicht gemacht, da ich gleich zu Beginn etwas schmächtig war und wenig auf den Rippen hatte, wie es meine Großmutter nicht müde wurde, bei Familienfeiern zu betonen. Dabei fasste sie mir jedes Mal und manche Tage auch mehrmals so kräftig an meinen ihr nächstgelegenen Oberarm, dass ich hoffte, am darauffolgenden Tag keinen Schulsport zu haben, denn spätestens beim Schwimmtraining, das ich aus anderen Gründen hasste, wäre es dann zu Irritationen gekommen, die ein Vorsprechen meiner Eltern mindestens beim Klassenlehrer, vielleicht sogar beim Schulleiter und einen Folgebesuch des Jugendamtes bei uns zu Hause ausgelöst und den Hausfrieden von Amts wegen bedroht hätten.

Glücklicherweise lagen die Familienfeiern meist kurz vor den Wochenenden oder wenigstens nicht im näheren Bereich meines Sportunterrichts. Ich ersparte es mir und den Betroffenen so darauf hinzuweisen, dass eine wirkliche Klärung des Sachverhalts nur im Rahmen einer Geburtstagsfeier in unserem Hause zu erreichen sei, was wiederum beim Jugendamt für einen schlechten Scherz gehalten worden wäre und gleichzeitig dennoch der Wahrheit entsprochen hätte. Es wäre allen Beteiligten schließlich aber nur so sehr schnell klar geworden, dass es meine Großmutter auf ihre Weise im Grunde nur gut meinte. Am ringförmigen Hämatom änderte das natürlich nichts.

Ihre Hand schaffte es wenigstens in den ersten Jahren, also kurz nachdem ich das selbstständige Laufen gelernt hatte, die, zugegeben, auch in späteren Jahren noch nicht weniger bescheidene Muskulatur des Oberarms in einer Demonstration eigener Stärke ganz zu umschließen. Das änderte sich zwar im Laufe der Jahre und vergleichsweise schnell, weil selbst meine Arme an Umfang zulegten und die Mutter meines Vaters sehr kleine Hände hatte. Im Kopf blieb es trotzdem auch später immer der Griff der frühen Jahre. Selbst als er irgendwann ausblieb.

Liebevoll, schmerzhaft – irgendwie wusste ich, dass sie ihre schützende Gewalt lediglich zur Gefahrenabwehr einsetzte. Wahrscheinlich hörte sie in ihrem Kopf irgendwo ständig ein zu schnell fahrendes Auto oder ahnte in der Umgebung eine gefährliche Kreuzung, auf die man geradewegs zusteuerte und deren erst neulich bei einer routinemäßigen Wartungsarbeit sorgsam ausgetauschte Ampelschaltung just dann ausfallen würde, wenn man sie denn zu passieren gedachte. Sie hörte Sirenen, wo noch kein Unfall war, und sah Verletzte, wo es keine gab. Der Krankenwagen war in ihrem Kopf, aber das hatte Gründe, die hier nicht weiter ausgeführt werden können.

Ein Raum, ein Zimmer

Er geht durch die Tür
auf der anderen Seite des Raumes
wartet eine Person
sie sitzt hinter einem Bildschirm
ein Fenster im Rücken
der Blick nach draußen
alles läuft nur virtuell ab
die Jalousien sind heruntergelassen
das LED-Licht macht den Raum
zu einem Aquarium ohne Wasser
es ist ohnehin besser
nicht zu viel in die Welt zu schauen
umso besser auch
dass heute das Internet ausgefallen ist
der Verwaltungsfachangestellte erhebt sich
er schaut freundlich in das Gesicht
seines Besuchers
sie setzen sich gemeinsam
zurück an den Tisch
auf dem ein Foto der Familie steht
sie erzählen darüber, dass sie
nie so spießig werden wollten
nie so, wie sie sich jetzt auf dem Bild begegnen
heute wissen sie nicht mal mehr, was ’spießig‘ daran ist
sie riechen die Armut als Angst
sie planen den Skiurlaub diesmal
nicht auf ihrem Smartphone
sie erzählen stattdessen über die Inflation
sie können die Kredite
gerade noch bedienen
das Haus, das Auto, das Glück
sie fühlen sich wie Männer
aus einer Werbung der 90er
aber weniger unbefangen
denn sie sind auch ihre Frauen
sie bezahlen dafür
und alles wartet darauf
dass endlich jemand
mit dem Hammer
die Blase sprengt
in der sie lethargisch
daran verzweifeln
dass ihre Gefühle
sich im Raum
nicht so verbinden
dass er ein Zimmer
mit Atmosphäre
und Zuneigung wird
dann stempeln sie aus
und fahren zusammen
nach Hause
bis das Internet
wieder geht
und morgen
machen sie weiter
dann richtig
ohne Gespräche
mitten im Raum
ohne Zimmer
zusammen
mitten im Leben
in einem Beruf
in einer Familie
in einem Ich ohne
Wir.

Grauregenblütenträume

Vom Himmel herab
steigt heute
nicht Gott
nicht seine Göttin
auch keine andere
– freie Gestalt.

Der Regen gießt
die Winterdepression
wächst sich aus in
lila und aquamarin
sind die Streifen
auf deiner
Retrotrainingsanzugsjacke
auf der alles verdunstet
wie auf einem heißen
Espressokocher
dampfst du Koffein
in die Nacht
in der ich
die Sonne
vor Freude
vergesse
und in die Tasche stecke
und damit
durch den Zoll des Lebens komme.

Erfolgreich
fliegen wir
– klimaneutral
regnest du mich
auf die Traurigen nieder
und bringst mir ihnen
den Funken und die
Hoffnung
das Glück
zurück
in der Nacht
sind wir grau
schön
und
unbesiegbar.

Wir
verbrennen das Leben
zusammen
in zwanzig Minuten
ein Schauer
Liebe
dunstet aus uns
das ist
Vergeltung.

Nebenbei wird eine Studie erstellt,
die im Frühjahr erscheint
und über
alles entscheidet,
was heute schon war.

Anbetung

Sie beten ihn an
oder sie
und vor allem
sich selbst
sie sind so großartig
konservativ
und
Opportunisten
mit dem alten Versprechen
der ernsthaften Erneuerung
„eigentlich sind wir anders“
predigen
die alten Funktionäre
weiße Männer
– und Frauen
nur nicht mehr „ihre“
alle gehören endlich
sich selbst
also
niemandem
oder doch?

Betrachtung der Körperlichkeit

Ich kann rückblickend sagen, dass das Erkennen der eigenen Physis mich darin bestärkt hat, an die Existenz eines höheren oder göttlichen Wesens zu glauben. Denn wer oder was auch immer uns durch den Geburtskanal der eigenen Mutter auf die Welt katapultierte, – das konnte kein Zufall sein. Dafür war das Geschäft der Geburt einfach zu anstrengend und gefährlich.

Zudem würde sich das ganze Spektakel, begleitet von schmierigen Flüssigkeiten, seltsamen Gerüchen und vor allem großen Schmerzen, für einen wie mich kaum lohnen. Zumindest aus rein körperlicher Perspektive betrachtet und im Sinne einer effizienten Ästhetik. Und würden nicht wenigstens Neugeborene den Schmerz ihrer Reise offensichtlich gleich wieder vergessen, es gäbe wahrscheinlich nicht einen Menschen, der einen anderen noch einmal auf diesen beschwerlichen Weg bis ans Ende des Tunnels schicken würde. Abgesehen natürlich von einigen Sadisten, die es ja ohne Frage zu geben scheint und bei allem möglichen Spaß am Vorgang der Zeugung.

In den Wäldern

Durch die Wipfel der Bäume
atmet der Wind deine
Stimme spricht
aus den Blättern
wie ein leuchtendes Fragment
aus dem Gestern
ganz nah
bist du mir
wie eine Gefährtin
die geht
gehen muss
aber nie ganz
und manchmal
schimmert
der Horizont durch
durch die Stimmen
des Waldes
die uns
beobachten
wenn wir uns lieben
auch
wenn wir jetzt
alt sind.

Zum Advent

Du lachst so schön
durch den Advent
drum ist’s egal
wenn beim großen
– Stromausfall –
des Nachts
kein Lichtlein brennt.

Du trägst uns
trotzdem
sicher bis ans Ziel
und jeder weiß
schlimm wär’s erst
wenn
auch das
ausfiel.