Nachdenken über Christa W.

Heute W. gelesen
die Schriftsteller sorgen
dafür, dass die Illusion
lebt
ich lebe auch
bin ich eine Illusion

man schreibt
in der freien Welt
oder gegen die
Unterdrückung

wie lange kann
man noch schreiben
ohne zu viel
zu verraten

ich stehe am Fenster
und denke an Christa W.
niemand kann folgen

wie lange braucht es

wann endet die Ausbeutung
des eigenen Ich

es ist nur eine Frage

wie kann man eine Welt
abweisen, die sich in mich
einschreibt

wie schreibe ich mich heraus
wo lande ich dann
was mache ich mit schlechten Texten
trage ich die Verantwortung dafür
wenn sie aus der Welt kommen
was wäre mit Guten, würde ich sie
ebenso von mir weisen
wann beginnt die Eitelkeit
wann endet das Genie
warum schreibe ich heute
und nicht gestern
nicht vorgestern

muss ich das Alte vergessen
ich muss das Alte vergessen
das Alte muss ich vergessen
vergessen muss ich das Alte
Alte vergessen das ich muss

kann ich einfach so schreiben
ohne, dass mich die Welt bestraft
wenn die Welt mich nicht belohnt
oder verspielt der Mensch
den Kredit bei der Gedanken-
polizei, die uns alle kontrolliert
nicht jeden Tag, aber oft

wann hast du das letzte Mal
nackt am Fenster gestanden
warum
warum nicht

ich treffe Max Frisch
in meinen Gedanken
er hat gute Laune
und ich
irgendwie auch

vermutlich ist das alles
was Literatur und Sprache
bewirken können müssen
sie können noch viel mehr
aber das verstehe ich nur
wenn ich auf der Toilette
sitze und alte Chats
archiviere.

Politik der großen Herren

Die Macht ist groß
mächtige Herren und
Damen wollen
regieren

wenn die Regierung
die Anderen sind
investieren wir
nur in die Medien

staatspolitische Verantwortung
trage ich nur für mich und
für meine Freunde

ein Kind will unbedingt
als Großer
in die Geschichte eingehen

die alte Welt verändert sich
Menschen haben Angst vor
Veränderungen, sie wollen
dass alles so bleibt

nie bleibt etwas so
wie es ist

Gegenwart ist
eine Illusion

die Verhandlungen laufen
wir haben doch alles gemacht
wir haben mit allen gesprochen
wir haben unser Programm aufgegeben
wir haben alles verändert
wir haben überall zugestimmt
wir haben die Kritik auf uns genommen

sie haben das Grüne bekommen
sie haben ihren Posten gesichert

sie haben ihre Punkte gemacht
sie waren nie wirklich zufrieden
sie wollten alles wie ich
sie wollten alles wie immer
sie wollten ihre Posten behalten
sie wollten das Spiel so wie wir
sie haben Millarden versprochen
sie werden die Wahrheit verraten

mit solchen Leuten kann man
nicht koalieren, wir haben verhandelt
wir haben es wirklich versucht
niemand lässt uns eine Wahl
endlich ist alles bereitet

wir regieren mit den Blauen

was soll die rotgrünversiffte Opposition
schon gegen ein Programm sagen
dass sie selbst den Menschen versprochen hat

links ist vorbei

Industriegebiet

Der Bus hält mitten im Nirgendwo
eine Tankstelle ist hell erleuchtet
ich kaufe ein Kaltgetränk
das war’s schon, fragt der Kassierer
etwas verwundert, aber
nicht überrascht
es ist sommerlich warm
ein kurzer Regen liegt
noch auf dem Asphalt
später wird es wieder
regnen

in der Stille
spielt die Musik
ein paar Lieder
von früher und
neue

heute ist alles
so friedlich
wie damals

heute fängt alles
gerade erst wieder
an

gleiches Lied
paar Jahre später
dann der Refrain
Herz bebt, Kopf
kaputt

In einer Pause: Glas stößt aneinander

in deinen Augen
beginnt das Licht

Ohnmacht in Berlin

Die Antworten der großen Politik
sind leere Phrasen der Gestrigkeit
wir dürfen die Zukunft nicht heute
verspielen und machen es doch
schon seit Jahrzehnten
die Kinder der 60er sind
in der Entspannungspolitik
aufgewachsen und haben
die großen 90er gefeiert
am Ende jeder Drogenparty
stehen Rausch, Absturz
Depression
alle Probleme von heute
waren über Jahrzehnte
absehbar
guter Planung
hat man sich verweigert
und Geld gedruckt
in der Krise
so tut man es jetzt
nichts wird sich ändern
außer, dass
Wohlstandskinder
noch einmal
Zuckerwatte
für Brot halten

die Merkeljahre
sind
nach kurzer Pause
zurück

die große Politik
muss bessere Arbeit
leisten

es fehlen
Mut, Qualität und Innovation
niemand ausgenommen

Du fehlst gerade

Der Bus fährt in Richtung Norden
neben mir sprechen Menschen
alle Sprachen gleichzeitig, sie
versprechen sich Liebe

am Wiener Platz trinkt man Vodka
Kokain kann sich nicht jeder leisten
im Radio macht eine Moderatorin
oberflächliche Witze und findet
sich und das Program viel zu gut

ich habe einen Flashback und
denke daran, wie sich alles verändert
in der einen Sekunde – wenn alles passt
macht Sprache, dass man durch Freude
alles vergisst; miteinander

die große Welt reduziert sich
auf ein einziges Wort, dass du
suchst, wenn wir im Sommer
Kirschen pflücken

ein Mann steigt in den Bus
sie nehmen sich
herzlich in die Arme
alles folgt wie Gewohnheit
doch es ist alles außer
gewöhnlich

dann denke ich nur noch daran, dass du gerade fehlst
dann denke ich nicht mehr für immer…
dann vermisse ich dich nicht
dann bist du da, wenn du fehlst
dann bist du ›du‹
dann merke ich: dieses Gefühl gibt es nur wegen dir

auf Droge hätt’ ich dich
einfach viel zu oft nur verloren.

Windschatten

Ich bin in der Realität aufgewacht
der Himmel war grün, die Wiese blau
das Herz, meine Herren, ist schwarz
schon immer gewesen –
ein roter Papagei wird für eine
feindliche Drohne gehalten
und abgeschossen

ein Kommunist wird für einen
Kommunisten gehalten und
auch abgeschossen

man kann aus der Geschichte lernen
dass sich Menschen nicht ändern

laut brüllt der Marktschreier
und verkauft frische Pfirsiche
Mütter bringen Gurken nach Hause

das Wort ‚Hass‘ stammt aus dem
Mittelhochdeutschen und meint so viel
wie boshaft oder mit Hass erfüllt;
eine Lehrerin in der Grundschule
meinte mal zu mir, ich könne einen
Lehrer nicht hassen, ihr Vater sei
von den Russen erschossen worden
diese Menschen könne man hassen
ich dürfe das nicht; ich habe das
bis heute so akzeptiert.

Gefragt, ob der Vater ein Nazi war
habe ich damals nicht, genau genommen
empfinde ich das Verhalten der Lehrerin
bis heute übergriffig –
inhaltlich stimme ich aber zu, ich
kann und will nicht hassen. Hass
ist besser, wenn man ihn nicht
sucht oder findet; er ist
nur schön, wenn man ihn
vermisst meldet und
nach Zeiten aufgibt.

Auf einer Wiese dreht ein Rad
der Wind ist heute forsch, aber
nicht zu hart. Das Windrad
freut sich des Tages. Es hat
Angst, dass jemand kommt,
um es abzureißen: „Weil es
hässlich ist.“

In der Sprache zeigt sich
das wahre Gesicht eines
Täters.

Empathie ist ein Zeichen
von Intelligenz, Vernunft
der Maßstab für Politik,
Hass ist ein Zeichen
von Schwäche.

…und sie wissen nicht,
was sie tun.

Langsam rieselt der Schutt von den Wänden

Der Altbau lebt
seiner Zeit voraus
die Jahre ziehen
in das Land
und unbemerkt
flüchtet
die Wand in
ein neues Leben
seit über 10 Jahren
rieseln nun
Putz und
Nachkriegsbeton
von der Wand
eine Lücke
tut sich auf
eine Lücke
in der weißen
Fassade wartet
dass sich endlich
jemand
um sie kümmert
und renoviert

meine Geduld ist endlich
ich hole den Staubsauger.