Konsequenzen für die Großmutter

Es kam für meine Großmutter, nach einigen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, zum Tadel für den „Widerstand gegen Anordnungen von oben“ sowie das „Antasten der höheren Autorität“ in Vertretung des Klassenlehrers. Bloß angedroht wurde der Schulverweis im Wiederholungsfall oder „bei jeder nächsten Kleinigkeit“, wobei der Wortlaut hier bewusst Willkür implizierte. Hinzu kam die schlechte Note für die offiziell nicht erledigte und daher „fehlende Hausaufgabe“. Die schlechte Wertung schrieb sich fortan chronisch bis zum Ende der Schulzeit fort. Fächerübergreifend sprach sich der Vorfall herum und meine Großmutter kam nicht mehr auf einen wirklich grünen Zweig. Dies wurde nicht ausgesprochen, war aber als übliche Gepflogenheit offen bekannt. Es entspricht somit den nicht zu beweisenden, aber zweifelsfrei existenten Tatsachen in der Welt.

Zur Verkündung des Urteils von offizieller Stelle erfolgte am Tag nach dem Ereignis die Vorladung der Eltern beim Schulleiter unter Anwesenheit des Klassenlehrers. Es wurde dabei häufig von „Gewissen“ gesprochen. Die Eltern meiner Großmutter hatten Sinn für Humor, hörten sich die Klage des Lehrers an und sie gelobten Besserung im Namen der Tochter und in ihrer Erziehung. Sie schüttelten die Hände und erzählten ihrer Tochter beim Abendessen dann, dass es keinen Sinn habe, sich mit solchen Leuten groß anzulegen, da man ja doch den Kürzeren ziehen würde und man müsse schließlich sehr vorsichtig sein, dass man gegenwärtig nicht unter die Räder komme. Ihr Verhalten wäre bewundernswert mutig und sei auch mehr als angemessen gewesen, sogar notwendig in gewisser Weise; und ihnen wäre das eigentliche Dilemma, in dem sie sich befinde, durchaus bewusst: Mit ihrem Talent habe sie das Zeug dazu, später einmal an die Universität zu gehen. Es wäre allerdings wichtiger, hier und heute nicht zu kreativ zu werden. Gegenwärtig käme das nämlich jede Familie teuer zu stehen.

Meine Großmutter erholte sich von diesem Schock nicht mehr und schrieb danach nie wieder Zeilen auf. Ihr Tagebuch beendete sie abrupt. Wenn sie in seltenen Fällen mal unter Leute kam, trug sie zwar außergewöhnliche Sätze mündlich in den Raum, sodass sie in der Gesellschaft stets als belesene Frau erschien, doch sie machte sich aus dem Spiel des Bluffs nicht mehr als einen großen Spaß und beließ es dann dabei. Keiner ihrer Sätze wurde je in einem Buch gedruckt. Sie war auch nicht auf die Universität gegangen, sondern hatte sich mit dem Leben als Ehefrau und Mutter, verantwortlich für Grundlagen der Erziehung und Abwicklung des eigenen Haushalts, arrangiert. Und so sehr sich der Vorfall von damals und die Verhältnisse ihr entgegengestellt hatten, war sie doch keine gebrochene und nie eine unglückliche Frau, denn sie wusste, dass sie wenigstens einmal in ihrem Leben sehr großes Glück gehabt hatte und das Wissen darum machte sie noch glücklicher.

***

 

Handlungsweisen der Schulleitung

Der Klassenlehrer zeigte sich darauf einsichtig. Es hätte sich in keinem Falle gut gemacht, eigenmächtig die hier geltende Ordnung zu stören, bevor man an dieser oder anderer Stelle in den höheren Dienst eingetreten war. Er blieb in der Sache zwar anderer Meinung, aber der Schulleiter war ihm schließlich nicht nur als Vorgesetzter einen Schritt voraus, sondern in einer zentralen Angelegenheit ein echtes Vorbild: Er war früher einmal ein „höheres Tier“ gewesen und verbrachte nun hier an der Schule nur seine letzten Jahre, bevor die endgültige Entlassung aus dem Schuldienst und die wohlverdiente Pensionierung folgen würden. – Nüchtern betrachtet, war der Schulleiter ein ganz integrer Mann und im Grunde ein fortschrittlicher Mensch, nicht ohne Fehler, aber auch nicht völlig verkehrt. Er hatte in all den Jahren seines Schaffens viele Höhen genommen, Tiefen gemeistert und alle Abgründe gesehen. Trotz allem behielt er einen klaren Blick für die großen und oftmals sehr schwierigen Zusammenhänge der Welt, und er sah die Notwendigkeit zur Vermittlung im Kompromiss, auch wenn es manchmal gegen die eigene Moral ging.  Er litt daran, aber zeichnete trotzdem stets treu und verantwortlich mit seinem Namen, da auch ihm jede Form von Widerstand als potentieller Katalysator des Chaos Angst bereitete. Und er konnte es sich nicht eingestehen, dass auch er es als Junge vielleicht hätte einmal anders machen können, als die Möglichkeit da war und er es eigentlich wollte, so wie seine Schülerin.

Hoffnung in Oklahoma

Am Firmament
sehe ich
– nichts.

Vielleicht ist die Erde
doch nur
eine Scheibe
Salami-
taktik.

Macht uns
kugelrund,
es sei denn:
Bewegung –
DIE TUT GUT

Wenn jeder etwas
beiträgt
hat das Jahr
konstant
366 Tage.

Selbst der…
24/7
Es fällt mir schwer?
Dir auch!
Satzzeichen prüfen.

Aber wenn wir nicht…
…das wissen wir beide.

Also
Los! Los! Los!
Wir satteln die Pferde
Winnetou
Old Shatterhand
alte Narrative
hinein ins Abenteuer
Held:innen
Geschichten
Kindergeschichten
Kolonialistische Reproduktion
Konterproduktive Repression
Kinderkacke Produktion
Copy-Paste-Bildungsymptom
Naivität oder Politik
Marketing
statt Ethik
und Dummheit
ist das Problem
und perfide Rationalität auch.

Er wundert sich über
die Sprache der weißen
Männer
und Frauen
in weißen
Gewändern.

Wenn die Empörung
es alles
auch nur ein bisschen
besser macht, dann
haben wir
gewonnen.
Hier Konjunktiv erwägen.

Zumindest „ein bisschen“
– temporär –
also
auf jeden Fall;
nicht verloren
geht
die Hoffnung
auf den Ritt
in den Sonnenuntergang
jenseits der imperialen
Gewalt; –

Ich glaube daran,…
Er hofft für mich mit
und zusammen sind wir
die Idioten
als die sie uns zeichnen;
zwei Figuren
in der Wüste von Oklahoma
verlassene Farmer
auf
Friedensmission
jenseits der alten
Grenze des
›Ich‹ will
über ›Dich‹
bestimmen.

Kurz nach 12

Wir treffen uns im Supermarkt hinter der Brücke. Ich erkenne dich nicht, du mich auch nicht. Dann erkennen wir uns fast zeitgleich. Jeder geht für sich noch einmal durch einen eigenen Gang und dann treffen wir vor den Cornflakes, fast wie geplant, aufeinander und lächeln uns zu.
„Wer hat jetzt wen ertappt…“, fragt er.
„Wobei denn überhaupt?“
„…es ist alles wie immer.“
Sie streift sich mit der rechten Hand über den linken Oberarm und tippelt auf den Füßen. Er sucht Haltung, aber macht darin keine gute Figur. Beide geben ein dynamisches Bild ab. Allerdings zeigt sich das Alter inzwischen als vergessene Jugend an den Händen, auf der Stirn und wenn beide nach einer gemeinsamen Erinnerung lachen, dann auch an den Augen.
„Wohnst du noch hier? Du wolltest doch immer…“, fragt sie.
„Und, du bist wieder zurück. Aufbruch und Ankunft. Oder Heimkehr.“
„Es war dort nicht besser. Anders, aber eben Amerika.“
Er hat viel gearbeitet in den letzten Jahren. Sie auch, ist inzwischen sogar wohlhabend. Sie hatte damals schon große Pläne. Er auch. Beide zusammen strebten nach der individuellen Revolution – damals nach dem Abitur. Jetzt ziehen sie ihre erste Bilanz und erkennen sich wieder, aber das Leben hat sie anders gezeichnet. Irgendwie schöner. Vielleicht.
„Ich möchte wirklich noch einmal…“, sagt er.
„Ich auch, so wie früher… einfach nur eine Stunde.“
„…und dann?“
„Dann machen wir es wieder so wie beim letzten Mal und sehen uns zwanzig Jahre nicht wieder.“
Die beiden verabreden sich für nächsten Mittwoch um 1. Dann hat er frei und sie auch. Sie feiern zusammen so etwas wie Weihnachten, nur ohne Kitsch, Konsum und ohne Familie. Am Glühweinstand auf dem Heumarkt treffen sich beide als Mann und als Frau. Zwei Menschen, die sich etwas erzählen von heute, gestern und die Pläne schmieden im Morgen.

Jenseits der Grenze

Im Moment der Abfahrt beginnt sich alles zu drehen. Die Räder setzen sich in Bewegung und das Stahlross gleitet dahin. Verschiebt mich und den Ort des Geschehens. Man steigt hier ein und dort wieder aus. Als wäre man selbst die Maschine oder zumindest ein Teil von ihr.

Einen Moment lang dreht sich der gesamte Bahnhof zum Zug.  Dann setzt das Poltern ein und bis in die hinterste Ecke wenden sich die Leute zur Ausfahrt. Sie winken freudig mit weißen Tüchern. Wie in einem historischen Gemälde, nur etwas schneller. Manche weinen, manche lachen, manche können beides nicht richtig und verfallen in einen Hybridzustand.

Nach drei Stunden werden wir angekommen sein.  Ich suche meinen Platz im Abteil.

Wohlstandsreste


„Rentner“ mit blauer Mütze (Baseball)
gutaussehender Mann (sexistisch?)
mit Sonnenbrille
trifft draußen
einen Freund
rauchen
Dialog
hinter
Glas;
draußen.

—–

Obdachlose suchen Flaschen
Drogen und Geld
finden keine
Solidarität
bei Liberalen

Der Mann mit Peitsche
wacht über die Kasse und
scheitert am Menschenbild.

Er findet Freunde bei den
sogenannten „Christen“.

Hier Rückblende: Weißer Mann / Pferd / Baumwollfelder

Freie Demokraten
Fliegen um die Welt
und beichten ihre Sünden
im Biomarkt.

„Zweitstimme grün!“
Wohlstand, wem Wohlstand mir gebührt.

Ich schwitze;
trotz
Klimaanlage (ein Waldbrand im Osten).

 

Herrenrunde

– Bemerkenswert ist an dieser Stelle: Während des gesamten Vorgangs suchte der Schulleiter, dabei auf der höchsten Sprosse einer alten, wackeligen Holzleiter stehend, in der obersten Reihe seiner eigentlich sehr aufgeräumten Bibliothek irgendein ihm sehr wichtig gewordenes Buch, das er zwar lange nicht in den Händen gehalten hatte, nun aber wohl doch akut vermisste. Enttäuscht und erfolglos stieg er im Anschluss an die Rede des Klassenlehrers hinab und bedankte sich für den Halt, den sein Kollege ihm und der Leiter besorgt hätten – es sei ja der ein oder andere so auch schon… und aus der Höhe stürze man sich selten gesund. Zurück an seinem Schreibtisch sitzend, empfahl er dem Klassenlehrer dann – sichtlich enttäuscht von seiner erfolglosen Suche – weniger durch den „Erfinder“ zu sprechen. So etwas falle einem später nur noch einmal auf die Füße. Wenn er weiter an seiner Karriere ›schustern‹ wolle, wovon er persönlich ehrlich gesagt ausgehe, solle er also besser beachten, dass gemeine Erfinder nicht gern gesehen seien. Dies zeige der heutige Vorfall ja exemplarisch.