Jenseits der Grenze

Im Moment der Abfahrt beginnt sich alles zu drehen. Die Räder setzen sich in Bewegung und das Stahlross gleitet dahin. Verschiebt mich und den Ort des Geschehens. Man steigt hier ein und dort wieder aus. Als wäre man selbst die Maschine oder zumindest ein Teil von ihr.

Einen Moment lang dreht sich der gesamte Bahnhof zum Zug.  Dann setzt das Poltern ein und bis in die hinterste Ecke wenden sich die Leute zur Ausfahrt. Sie winken freudig mit weißen Tüchern. Wie in einem historischen Gemälde, nur etwas schneller. Manche weinen, manche lachen, manche können beides nicht richtig und verfallen in einen Hybridzustand.

Nach drei Stunden werden wir angekommen sein.  Ich suche meinen Platz im Abteil.

Wohlstandsreste


„Rentner“ mit blauer Mütze (Baseball)
gutaussehender Mann (sexistisch?)
mit Sonnenbrille
trifft draußen
einen Freund
rauchen
Dialog
hinter
Glas;
draußen.

—–

Obdachlose suchen Flaschen
Drogen und Geld
finden keine
Solidarität
bei Liberalen

Der Mann mit Peitsche
wacht über die Kasse und
scheitert am Menschenbild.

Er findet Freunde bei den
sogenannten „Christen“.

Hier Rückblende: Weißer Mann / Pferd / Baumwollfelder

Freie Demokraten
Fliegen um die Welt
und beichten ihre Sünden
im Biomarkt.

„Zweitstimme grün!“
Wohlstand, wem Wohlstand mir gebührt.

Ich schwitze;
trotz
Klimaanlage (ein Waldbrand im Osten).

 

Herrenrunde

– Bemerkenswert ist an dieser Stelle: Während des gesamten Vorgangs suchte der Schulleiter, dabei auf der höchsten Sprosse einer alten, wackeligen Holzleiter stehend, in der obersten Reihe seiner eigentlich sehr aufgeräumten Bibliothek irgendein ihm sehr wichtig gewordenes Buch, das er zwar lange nicht in den Händen gehalten hatte, nun aber wohl doch akut vermisste. Enttäuscht und erfolglos stieg er im Anschluss an die Rede des Klassenlehrers hinab und bedankte sich für den Halt, den sein Kollege ihm und der Leiter besorgt hätten – es sei ja der ein oder andere so auch schon… und aus der Höhe stürze man sich selten gesund. Zurück an seinem Schreibtisch sitzend, empfahl er dem Klassenlehrer dann – sichtlich enttäuscht von seiner erfolglosen Suche – weniger durch den „Erfinder“ zu sprechen. So etwas falle einem später nur noch einmal auf die Füße. Wenn er weiter an seiner Karriere ›schustern‹ wolle, wovon er persönlich ehrlich gesagt ausgehe, solle er also besser beachten, dass gemeine Erfinder nicht gern gesehen seien. Dies zeige der heutige Vorfall ja exemplarisch.

Kapital

Das Geld ist sicher
Die Sparer:innen leiden unter der Inflation
Kein Haus ist finanzierbar
In einem normalen Blumenladen
schimpfen Kleinbürger:innen über die Preise.

Blumen kommen aus Bangladesch
Hier welke Blütenblätter einkleben

 

+

 

Die Putzfrau arbeitet schwarz und fällt bei der Säuberung des Oberlichts aus dem 8. Fenster des dritten Stocks. Dachdecker auf dem Nebenhaus können nichts mehr für sie tun und springen der Frau hinterher in das Nichts. Sie treffen sich drei Tage später an der Kreuzung und ärgern sich über den verregneten Sommer. Im Büro auf der anderen Straßenseite schneit es derweil und die Berufsgenossenschaft wartet ihr letztes funktionsfähiges Faxgerät. Es ist 2021.

Alles hat seine Zeit.

Radio

Konsum
Werbung
Mittelstand
Paare
Kinder
Kotzen
Vokabeln
bei der Nachhilfe
davor Musikunterricht
danach Fechten
morgen ist Schule
dann Wochenende
Koks
und
Eskalation
im Stadtwald.

Blanke
Erfolge
stehen
bevor

heiraten
ganz
bald
.

Kinder vs. Karriere

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Im Hintergrund stirbt ein Hund während
einer Weltreise der Herrin durch China
.

Die Mutter kocht,
in China essen sie…
…auch der Mann
F.
die Sugar Lady
auf Geschäftsreise.

Es ist 1961.

——-

.

Der Vater kocht,
in Deutschland essen sie…
…auch die Frau
F.
der Sugar Daddy
auf Geschäftsreise.

Es ist 2061.

——-

Kondensat

Das Ende zu finden
ist auch immer mit
einer kurzen Verkrampfung
und großen Anspannung verbunden.

Mittlerweile, gelernte Konzentration
und keineswegs Phase der Panik.

Man kennt sich,
lernt sich
kennen.
Bildung am Selbst
mit sich
und der Herausforderung
das Neue
auf den Schultern von
RiesInnen
.
getragen
durch
die
Zeit
.

Eine kleine Geschichte der Freiheit

Ich betrat das Café des Ostens und suchte die französischen Anführungszeichen auf der Tastatur. In eben diesem Moment fiel mir der Fachbegriff ›Guillemets‹ nicht ein. Aus lauter Verzweiflung bestellte ich mir etwas zu essen, damit ich mein Skript noch beenden könnte. Eigentlich hatte ich keine Zeit mehr. Weder zum Essen noch zum Schreiben. Aber ich war natürlich nicht fertig, nicht ganz.

Und es blieb genug, um noch einmal frustriert durch das Netz zu streunen. Lethargisches Füttern der Suchmaschine machte mir irgendwie auch Spaß, es war ein Spiel, manchmal mit, inzwischen oft auch gegen den Algorithmus.

Der Text war gut. Das wusste ich insgeheim. Nicht perfekt, aber ausreichend, um die Partei zu bedienen. Ich stillte den Hunger und meine Gedanken, als ich durch die Glasscheibe auf den Bahnhof blickte und die vielen Reisenden mit ihren Koffern sah. Sie mussten panisch irgendwo hin und ich ging jetzt in die andere Richtung.

Morgen würde das nicht mehr gehen, aber ich kannte das von früher. Ich wusste, wie es sein werden würde, wenn sich die Teilung vollzog. Deshalb ging ich hier hin, hinein in die offene Wunde und machte das, was ich seit meiner Jugend immer tat: Ich aß in Ruhe den Teller leer, bedankte mich bei dem Kellner, gab ihm ein Trinkgeld und fragte mich insgeheim, ob es zu viel oder zu wenig sei.

Eigentlich wusste ich, dass die Summe in Wirklichkeit passte. Ich wusste auch, dass eine Mauer mich nicht zum gebrochenen Mann machen würde. Schließlich kannte ich die unsichtbaren Kräfte, die menschlichen Steine und die selbstlosen Funktionäre, die jedes System infrage stellen konnten.

Meine Arbeit war vermutlich so belanglos wie unnötig. Dennoch freute ich mich darauf, im Vermittlungsausschuss mein Impulsreferat zu halten. Und ich freute mich auf die kurze Zeit jenseits der Heimat und hinter der Grenze, die morgen schon geschlossen sein würde. Aber auch das kostete mich nicht, dass ich insgeheim wusste, was Anführungszeichen für das Wort Freiheit bedeuteten.