Nebengeräusche und Battlerap

– An dieser Stelle sei bemerkt: Meine Großmutter hatte durchaus Sinn für Phantasie, kannte ernsten Witz und verfügte über einen scharfen Blick für die Realitäten des Alltags.  Die Welt verstand sie trotzdem nicht so, wie sie die Leute scheinbar verstanden. Dennoch hätte sie durchaus das Zeug zur Schriftstellerin gehabt. Die Geschichte meinte es anders mit ihr. Als junges Mädchen waren ihr freier Geist, Feinsinn und das Talent zur Tat zum Problem geworden. Einmal weigerte sie sich, ein von ihr selbst am Vortag des Ereignisses geschriebenes Gedicht im Deutschunterricht gegen jenes aus dem Schulbuch zu tauschen. Das Gedicht meiner Großmutter hatte ungefähr die Länge der vorgegebenen Hausaufgabe und es war ihr natürlich doppelte Arbeit gewesen, die sie gerne gemacht hatte. Sie kannte auch das andere Gedicht auswendig, wie alle, die ihre Hausaufgaben stets sorgfältig erledigten – übrigens lag die Quote seinerzeit in aller Regel bei erstaunlichen 100 %  (in Worten: einhundert Prozent). An diesem Tag aber hatte meine Großmutter ihrer jugendlichen Freiheit zuliebe eine Entscheidung getroffen und das vorgegebene Gedicht zunächst gelesen, gelernt und trotz der ihr widrigen Sprache, beherrschte sie die freie Wiedergabe und hatte sich sogar Vers für Vers eine analytische Kommentierung des Textes erarbeitet. Allein, sie empfand den starken Willen dazu, den Widerspruch gegen das Fremde eigenmächtig in lyrisch raffinierter Form so aufzubereiten, dass man sich in verschiedenen Positionen nicht nur begegnete, sondern mit offenem Visier im direkten Duell von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Gedicht für Gedicht. Aussage gegen Aussage, Dichter vs. Dichterin. – Man kann durchaus sagen, dass meine Großmutter die Erfinderin einer frühen Form des Battlerap war, nur fehlt uns heute der Nachweis dafür. Das liegt vor allem an ihrem wenig musisch veranlagten und in seiner engstirnigen Kleinbürgerlichkeit wenig visionären, aber dafür damals völlig mit der Situation überforderten Klassenlehrer und ihrer Klasse, die kritischen Widerstand offensichtlich nicht als Chance begriff, sondern einfach nur als anstrengend empfand.

Was sie damals nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht hatte, war, dass sie durchaus den von ihr erwarteten Vortrag hätte – wie alle anderen – einfach abliefern können. Nur suchte sie dieses eine Mal die Gelegenheit für das Eigene und entzog sich damit natürlich bewusst einer einfachen Bewertung im vergleichenden Verfahren. Sie plädierte dennoch dafür, es anders zu machen, da es sich um „eine gelungene Abwechslung gegen drohende Monotonie“ handele. Schließlich seien ja vor ihr immerhin schon dreizehn sehr gleiche Vorträge von kaum unterscheidbarer Qualität verhandelt worden. Durch ihren Beitrag würde nun eine sehr andere Perspektive auf den Gegenstand geleistet. Dies bewirke eine Kontrastanreicherung. Dadurch werde, auch aus bildungspolitischer Sicht betrachtet, eine als dringend notwendig zu erachtende Differenzerfahrung überhaupt erst möglich. Es sei also nur in ihrem Sinne, aber auch im Sinne aller anderen zu verstehen.

Sie argumentierte scharf für ihre Position, aber nicht sehr lange. Als junges Mädchen erklärte meine Großmutter sehr selbstständig ihre offene Bereitschaft zum eigenständigen Vortrag und machte ergänzend die Ankündigung, sich im Anschluss jeder positiven wie negativen Kritik stellen zu wollen. Sogar für Spott und Häme zeige sie sich bereit. Das abfällige Lachen pubertierender Jugendlicher kannte sie von ihren Mitschülern und vom Schulhof. Für gewöhnlich richtete es sich gegen die direkt sichtbaren Phänomene. Hier ging es aber um etwas anderes und um mehr. Auch das zu erwartende kurzgeistige Vorurteil ihres reaktionären Publikums hätte sie nicht davon abgehalten, ihre Sicht der Dinge im lyrischen Vortrag energisch zu verteidigen. Sie hätte all das ertragen, stand vor der Klasse und stellte sich, vor dem Pult des Lehrers, während dieser mit seinem hochroten Kopf neben ihr stand. Ihm stockte der Atem, nicht ihr. Die kurze Sprachlosigkeit im Anschluss an die Debatte im Vorfeld nutzte meine Großmutter und setzte mit dem Titel ihres Gedichtes zum Vortrag an. Allerdings kam sie dann nicht mehr weit und der Klassenlehrer kam zu sich. Er brach den Vortrag ab, noch bevor sie ihn wirklich anfangen konnte…

Meine Großmutter war schon als Mädchen eine „selten dämliche“ Frau. Sie war sehr klug. Damit hatte der Klassenlehrer in seiner Zuschreibung recht. Doch weil er genau das nicht verstand, schlug seine Einschätzung ihrer Person vollkommen fehl. Sie war bedingungslos aufrichtig und vom Herzen weg ehrlich und das überforderte ihn, weil er insgeheim wusste, dass genau das seine eigene Schwäche war, und er hasste die Konfrontation mit dieser Wahrheit, denn er fühlte sich stark und glaubte sich stärker. Da er hier, in dieser Institution in leitender Funktion für die Regulierung der Ordnung eingesetzt war, aber seine intellektuellen Mittel und sozialen Kompetenzen streng genommen (und ehrlich gesagt) inexistent, weniger streng genommen (und diplomatisch gesagt) immerhin sehr begrenzt waren, sehnte er sich in dieser Situation die Prügelstrafe zurück, die der Schulleiter aber ganz offiziell als „allerletztes Mittel humanistischer Bildung“ bezeichnete und die damit inoffiziell nicht nur nicht geduldet, sondern auch explizit untersagt war. Der Klassenlehrer aber wollte das „junge Ding“ – wie er seine Schülerin später im Wortlaut bei seiner nicht protokollierten und damit öffentlich nicht erfassbaren Meldung gegenüber dem Schulleiter nannte und bei der er sich offen über fehlende Disziplinierungsmaßnahmen beschwerte –, er wollte sie im Wiederholungsfall körperlich „züchtigen“ können und dürfen, da Worte allein hier nicht reichten, allein ihm würden an Ort und Stelle ja ohne Not die Hände gebunden und dies sei ja so wohl „nicht im Sinne des Erfinders“.