Eingetrocknete Essensreste vom Teller zu kratzen, kann eine ganz schöne Herausforderung sein. Meistens gewinne ich den Kampf, bevor ich mich darauf einlasse. Der Klügere gibt nach. Ich esse entweder nicht oder von dreckigen Tellern, mit altem Besteck oder einfach mit den Fingern. Selbst der Ekel hat mich verlassen. Aufräumen war nie meine Stärke, aber früher kam ab und an Besuch. Da wollte ich die kleine Schwäche nicht offenbaren. Seit einiger Zeit bin ich allein. Alle um mich herum sind weggestorben. Ich bin der Letzte meines Stammbaums.
Heute ist Feiertag. Mein Weihnachtsgeschenk: Eine Backofen-Pizza mit einer Flasche Rotwein. Scheiß auf die Energiepreise. Aus der Schublade hole ich einen Kerzenstummel, den ich anzünde, um mich in Stimmung zu bringen. Das Fest der Liebe und Barmherzigkeit soll schließlich nicht zu kurz kommen. Sogar das Geschirr habe ich dafür gewaschen. Es ist ein Festtag für mich und meine Familie. Ich feiere mit mir und beschenke mich selbst. In meiner Erinnerung kommen einige Verwandte. Sie sind erstaunlich gut gelaunt! Gut, dass niemand einen Streit beginnt. Ich bestimmte die Dramaturgie.
Der Kerzenstummel ist ausgebrannt. Es ist kurz dunkel und ich schalte das LED-Deckenlicht ein. Ganz schön hell. Es ist ungemütlich und Weihnachten wieder vorbei. Ich gucke jetzt auf die Uhr. Es ist sieben, nicht morgens, sondern am Abend. Früher bin ich manchmal noch in die Kirche gegangen. Doch nach dem Glauben an Gott hat mich auch meine Verzweiflung verlassen. Das fühlt sich nicht wie ein Verlust an. Eher wie eine Erleichterung.
In der ersten Fassung dieses Textes folgte das ›Ich‹ noch einigen Gemeinplätzen zur Prostitution, zu Gewalt und Verbrechen und zu dem Fetisch, den die Gesellschaft mit sich herumträgt. Ich habe diese Passagen heute gestrichen, weil dieses Weihnachten ein friedliches Fest war. Die großen Probleme gehen wir nächstes Jahr an. Dann kümmern wir uns noch einmal um die Dramaturgie in der neuen Gesellschaft.