Wiedersehen auf der Eythstraße

Nach einigen Monaten geht es vorüber, das Gefühl, dass da doch was war oder gewesen ist. Der Ort hier könnte auch die Via Ignacio Allende in Mexiko City vor vielen Jahren sein. Ich weiß es nicht mehr genau, wie es damals war und wie genau es sich dort angefühlt hat, aber ich vermute, dass die Situationen vergleichbar sind. In Mittelamerika war es allerdings sehr viel heißer als gestern in Köln-Kalk an der Grenze zu Buchheim.

Ich hörte eine Stimme, sie kam nüchtern und unerwartet. Auf der anderen Seite der Straße lachte mich eine junge Person an, die inzwischen mit mir auf die 40 zugeht. Wir hatten uns lange nicht gesehen, sprachen über dies und das und über die gemeinsame Zeit, damals in der Schule. Es waren große Träume gewesen, die wir hatten, und die Realität hatte sich als noch größer herausgestellt. Das sah man dir an und mir wahrscheinlich auch.

„Weißt du noch“, sagt Lena, „es ist einfach nicht richtig einen Krieg zu beginnen.“ Es waren gerade zwei Flugzeuge in den Mittelpunkt der westlichen Welt geflogen. Das Problem der Stunde war der Terrorismus, der inzwischen global vernetzt war. Fanatische Einzeltäter wurden am Microsoft Flugsimulator ausgebildet, um dem Streben nach Glück die Kamikaze ins Paradies entgegenzusetzen.

„Ich bin einfach der Meinung, dass wir uns verteidigen müssen. Also ich weiß nicht, ich bin natürlich kein Amerikaner und so, aber wenn ich in New York leben würde, dann hätte mein Vater ja möglicherweise im Turm gearbeitet. Hast du die Bilder nicht gesehen, da springen die einfach raus…“, mein Plädoyer für den pazifistischen Humanismus fand seine Grenzen in dem Schock, den die Nachrichten in Echtzeit bei mir ausgelöst hatten.

„Es kann aber nicht sein, dass wir den Terror jetzt als Ausrede für Kriege gegen Staaten benutzen. Der Irak ist nicht Afghanistan, die Massenvernichtungswaffen gibt es nicht und es gibt überhaupt keine Beweise. Das ist alles Fake der Regierung!“, sagte Lena und ich hatte sie noch nie so emotional erlebt, aber gerade das machte mich jetzt glücklich, denn normalerweise waren ihre philosophischen Argumentationen immer sehr nüchtern, was mich oft überforderte. Nun kam sie der Sache näher, denn sie fühlte, dass Blut und Adrenalin etwas verändern konnten.

Am Nachmittag gingen wir zusammen auf die Demonstration gegen den Irak-Krieg. Wir hofften darauf, dass die Welt morgen nicht untergehen würde und dass die Amerikaner George Bush nicht noch einmal zu ihrem Präsidenten wählen würden. Das war viel Konjunktiv. Unser Englischlehrer sagte damals, dass wir uns nicht sicher sein sollten, die Stimmung in Deutschland sei das eine, die andere Sache sei die reale Wahl in den USA. Da kämen manchmal wilde Ergebnisse zustande.

Die frische Luft hatte uns gutgetan. Abends saßen wir zusammen und hörten das neue Lied von Pink und dann eins von Razorlight. Stell dir vor, wir könnten mal spazieren gehen, sang die eine, die anderen sangen von panic und trouble in Amerika. Beide Tracks versprachen uns schlaflose Nächte, und derweil gingen auch unsere Indie-Ideologien etwas durcheinander. Du fandest Pink viel zu sehr im Pop zu Hause für so eine politische Message. Ich fand, dass die Gitarre bei Razorlight großartig war, wollte das aber nicht offen zugeben. Eigentlich scheiterte ich an meiner eigenen Eitelkeit.

„Weißt du, der Track Dear Mr. President ist überhaupt nicht radikal. Die spricht den Präsidenten nicht mal an. Wenn die wirklich politisch wäre, dann wär das doch wichtig…“, dem konnte ich nichts entgegensetzen, aber ich versuchte, das was da war, dieses Etwas mit der Kunst zu begründen und sagte: „Die Kunst muss frei bleiben, so funktioniert das Lied auch Jahre später noch.“ Das war mein letztes Argument, dann waren wir zu Müde, um uns weiter zu streiten. Wir rauchten eine Zigarette und schliefen miteinander.

Am nächsten Morgen stand dein fragender Blick in meinem Gesicht: „Meinst du, dass jemand in Moskau oder St. Petersburg gerade Pink oder Razorlight hört?“, fragte mich Lena als es draußen sehr langsam zu regnen begann. Das wäre in Mexiko sicher so nicht passiert, da fiel das Wasser immer sehr plötzlich und konsequent vom Himmel. Zumindest war das so in meiner Erinnerung. „Ich habe gar keinen Schirm dabei“, sagte ich und schob völlig unpassend hinterher, „ich glaub ich muss noch mal hoch.“ Und dann war da wieder diese nüchterne Stimme, für die ich Lena so liebte: „Du liegst im Bett. Draußen war gestern. Du musst jetzt aufwachen, es ist schon 6:30 Uhr. Die Kinder müssen gleich zur Schule.“

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist die Zeile „Yesterday was easy / Happiness came and … „, und die Welt ist für uns beide ganz kurz in Ordnung.