Ein Raum, ein Zimmer

Er geht durch die Tür
auf der anderen Seite des Raumes
wartet eine Person
sie sitzt hinter einem Bildschirm
ein Fenster im Rücken
der Blick nach draußen
alles läuft nur virtuell ab
die Jalousien sind heruntergelassen
das LED-Licht macht den Raum
zu einem Aquarium ohne Wasser
es ist ohnehin besser
nicht zu viel in die Welt zu schauen
umso besser auch
dass heute das Internet ausgefallen ist
der Verwaltungsfachangestellte erhebt sich
er schaut freundlich in das Gesicht
seines Besuchers
sie setzen sich gemeinsam
zurück an den Tisch
auf dem ein Foto der Familie steht
sie erzählen darüber, dass sie
nie so spießig werden wollten
nie so, wie sie sich jetzt auf dem Bild begegnen
heute wissen sie nicht mal mehr, was ’spießig‘ daran ist
sie riechen die Armut als Angst
sie planen den Skiurlaub diesmal
nicht auf ihrem Smartphone
sie erzählen stattdessen über die Inflation
sie können die Kredite
gerade noch bedienen
das Haus, das Auto, das Glück
sie fühlen sich wie Männer
aus einer Werbung der 90er
aber weniger unbefangen
denn sie sind auch ihre Frauen
sie bezahlen dafür
und alles wartet darauf
dass endlich jemand
mit dem Hammer
die Blase sprengt
in der sie lethargisch
daran verzweifeln
dass ihre Gefühle
sich im Raum
nicht so verbinden
dass er ein Zimmer
mit Atmosphäre
und Zuneigung wird
dann stempeln sie aus
und fahren zusammen
nach Hause
bis das Internet
wieder geht
und morgen
machen sie weiter
dann richtig
ohne Gespräche
mitten im Raum
ohne Zimmer
zusammen
mitten im Leben
in einem Beruf
in einer Familie
in einem Ich ohne
Wir.

Grauregenblütenträume

Vom Himmel herab
steigt heute
nicht Gott
nicht seine Göttin
auch keine andere
– freie Gestalt.

Der Regen gießt
die Winterdepression
wächst sich aus in
lila und aquamarin
sind die Streifen
auf deiner
Retrotrainingsanzugsjacke
auf der alles verdunstet
wie auf einem heißen
Espressokocher
dampfst du Koffein
in die Nacht
in der ich
die Sonne
vor Freude
vergesse
und in die Tasche stecke
und damit
durch den Zoll des Lebens komme.

Erfolgreich
fliegen wir
– klimaneutral
regnest du mich
auf die Traurigen nieder
und bringst mir ihnen
den Funken und die
Hoffnung
das Glück
zurück
in der Nacht
sind wir grau
schön
und
unbesiegbar.

Wir
verbrennen das Leben
zusammen
in zwanzig Minuten
ein Schauer
Liebe
dunstet aus uns
das ist
Vergeltung.

Nebenbei wird eine Studie erstellt,
die im Frühjahr erscheint
und über
alles entscheidet,
was heute schon war.

Anbetung

Sie beten ihn an
oder sie
und vor allem
sich selbst
sie sind so großartig
konservativ
und
Opportunisten
mit dem alten Versprechen
der ernsthaften Erneuerung
„eigentlich sind wir anders“
predigen
die alten Funktionäre
weiße Männer
– und Frauen
nur nicht mehr „ihre“
alle gehören endlich
sich selbst
also
niemandem
oder doch?

Betrachtung der Körperlichkeit

Ich kann rückblickend sagen, dass das Erkennen der eigenen Physis mich darin bestärkt hat, an die Existenz eines höheren oder göttlichen Wesens zu glauben. Denn wer oder was auch immer uns durch den Geburtskanal der eigenen Mutter auf die Welt katapultierte, – das konnte kein Zufall sein. Dafür war das Geschäft der Geburt einfach zu anstrengend und gefährlich.

Zudem würde sich das ganze Spektakel, begleitet von schmierigen Flüssigkeiten, seltsamen Gerüchen und vor allem großen Schmerzen, für einen wie mich kaum lohnen. Zumindest aus rein körperlicher Perspektive betrachtet und im Sinne einer effizienten Ästhetik. Und würden nicht wenigstens Neugeborene den Schmerz ihrer Reise offensichtlich gleich wieder vergessen, es gäbe wahrscheinlich nicht einen Menschen, der einen anderen noch einmal auf diesen beschwerlichen Weg bis ans Ende des Tunnels schicken würde. Abgesehen natürlich von einigen Sadisten, die es ja ohne Frage zu geben scheint und bei allem möglichen Spaß am Vorgang der Zeugung.

In den Wäldern

Durch die Wipfel der Bäume
atmet der Wind deine
Stimme spricht
aus den Blättern
wie ein leuchtendes Fragment
aus dem Gestern
ganz nah
bist du mir
wie eine Gefährtin
die geht
gehen muss
aber nie ganz
und manchmal
schimmert
der Horizont durch
durch die Stimmen
des Waldes
die uns
beobachten
wenn wir uns lieben
auch
wenn wir jetzt
alt sind.

Zum Advent

Du lachst so schön
durch den Advent
drum ist’s egal
wenn beim großen
– Stromausfall –
des Nachts
kein Lichtlein brennt.

Du trägst uns
trotzdem
sicher bis ans Ziel
und jeder weiß
schlimm wär’s erst
wenn
auch das
ausfiel.

Brechen und Biegen

Als ich  vor der Tür stand, meine Schlüssel offensichtlich vergessen hatte und nun beim erneuten Abtasten meines Körpers feststellen musste, dass auch mein Smartphone nicht in erreichbarer Nähe war, bemerkte ich plötzlich, dass es keine Telefonzellen mehr gab. Auch die Nummer von Peter fiel mir nicht ein, obwohl es immer noch der alte Festnetzanschluss war, auf dem er sich ausschließlich anrufen ließ.

Er selbst nutzte das Telefon selten für ausgehende Gespräche. Eigentlich gar nicht. Zumindest erinnerte ich mich an keinen Fall, in dem Peter mich mal angerufen hatte, und wir kannten uns nun immerhin schon gut dreißig Jahre, was mich überraschte, als ich darüber nachdachte.

Ich versuchte mir die Zahl vor Augen zu führen und malte sie dazu mit meinem rechten Zeigefinger in die Luft vor die verschlossene Eichentür, als wäre es die abgefallene Hausnummer und als wäre ich ein Paketbote auf der Suche nach dem Klingelschild „Müller“. Wie viel Zeit passt in dreißig Jahre, fragte ich mich –

Ich scheiterte in einer zufriedenstellenden Beantwortung und nutzte den Moment für eine flüchtige Altersmelancholie, die mir aber zu früh kam, daher überführte ich die angesprochene Zeit umgehend in eine Raffung und folgte einem mir mittlerweile sehr gut eingeübten und beinahe intuitiv funktionierenden Pragmatismus: Ich beschloss, dass dreißig Jahre eine „ganz schön lange Zeit“ seien und lachte vorsorglich, wie ich es mir üblicherweise für den sogenannten „Small Talk“ in Kneipen vorbehielt, um darin eine gute Figur zu machen. Ich hatte genau das seinerzeit zu Hause vor einem extra dafür angeschafften Spiegel als Reaktion für Zweifelsfälle einstudiert, nachdem es redebedingt wiederholt zu einigen Vorfällen gekommen war, von denen manche in einem Kontext der physischen Gewalt mündeten.

Während meiner präventiv durchgeführten Übungen tendierte ich zunehmend dazu, den Schluss zuzulassen, der Spiegel sei genau für diesen Zweck und extra für mich angefertigt worden. Zu präzise erschien mir der Kommentar, den er hinterließ, wenn ich mich ihm übermütig präsentierte und die Hosen fallen ließ.

Man könnte sagen, dass ich, hin und wieder selbst von mir erschrocken, dem hageren Fleisch gegenüberstand, als warte es auf den Wolf, um ihn doch noch davon zu überzeugen, dass es seiner eigentlichen Natur entspräche, sich vegan zu ernähren. Der Wolf kam nie, aber an meiner gebrechlichen Statur änderte das wenig.